Das Digitale Depot
Rettungsweste HVALUR 5
Gewicht: 0,8 kg
»Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand« – so sagt ein geflügeltes Sprichwort ungeklärter Herkunft. Doch während vor Gericht auch gute Anwälte, ein Alibi oder schlicht die Unschuldsvermutung helfen, musste man sich auf See anderweitig behelfen. Ein unvorhersehbarer Sturm, ein schlecht gewählter Kurs oder das Versagen der doch nicht so verlässlichen Technologie: all dies kann Menschen auf See ins Verderben stürzen. Um die Überlebenschancen zu erhöhen wurden Sicherheitseinrichtungen entwickelt, von denen die Rettungsweste wohl die bekannteste ist. Ihre grundlegendste Funktion ist es einen menschlichen Körper über Wasser zu halten. Heutige Rettungswesten leisten einiges mehr: Sie sorgen für Tragekomfort, eine sichere Schwimmposition, und beinhalten unterschiedliche Signalgeber.
An Bord des Museumsschiffes RAU IX fand sich eine Rettungsweste die all‘ diese modernen Eigenschaften noch nicht besitzt. Es handelt sich um ein aus grobem, beigem Stoff gefertigtes Stück mit Öffnungen für zwei Arme und Kordeln an den oberen und unteren Enden. In die Weste eingenäht sind mehrere Festschwimmkörper aus Kork. Beschriftungen geben Auskunft über den Nutzungszeitraum und die Herkunft der Weste. In großen Buchstaben sind die Worte »HVALUR 5« und »RE.305« zu lesen. Der Schiffsname RAU IX hingegen ist nicht zu finden. Dies liegt daran, dass das als Walfänger gebaute Schiff nicht immer diesen Namen trug. 1939 noch als RAU IX für die Walter Rau Walfangflotte vorgesehen, wurde das Schiff direkt nach Fertigstellung beschlagnahmt und im Kriegsdienst nach Norwegen abberufen. Dort verblieb es nach der Kapitulation und wurde als Walfänger unter norwegischer Flagge mit Namen KRUTT eingesetzt. 1953 wechselte das Schiff in isländischen Besitz. Das Unternehmen Hvalur übernahm das Schiff als fünftes seiner bestehenden Walfangflotte unter der Kennung »RE.305«.
Die Weste selbst scheint ein norwegisches Produkt zu sein. Neben dem Namen und der Kennung finden sich die Worte »Standard Redningsvest«, »Godkjent av Sjøfartskontor« »BAK« (2x) und »Chr. Christiansen«. Die Aufdrucke sind auf Norwegisch und bedeuten »Standard Rettungsweste« und »Anerkannt durch die Handelsmarine«. Die Bedeutung von »BAK« ist unklar. Bei »Chr. Christiansen« könnte es sich um einen Hersteller halten. Eine quasi identische Weste mit fast wortgleicher Beschriftung, abgesehen vom Schiffsnahmen, befindet sich in den Sammlungen des Norsk Maritimt Museum in Oslo (https://digitaltmuseum.no/011024215746/redningsvest). Die Maße des Stückes sind 115 x 39 x 7 cm, ohne Kordeln. Als Alter lässt sich nur die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts vermuten.
Es ist davon auszugehen, dass sich für jedes Besatzungsmitglied eine eigene Weste an Bord befand. Wie wichtig das Tragen von Westen oder zu mindestens deren Zugang an Bord sein kann, zeigt das Unglück des Schwesterschiffes RAU III. Das Schiff kenterte 1937 bei einer Probefahrt in der Weser direkt auf Höhe der Stadt Bremerhaven und riss zwölf an Bord befindliche Personen mit in den Tod. Führt man sich die Funktion des Schiffes als Walfänger, die damit verbunden Fahrgebiete in der Arktis und Antarktis, und die Tätigkeiten der Crew vor Augen, erscheint eine persönliche Schutzausrüstung mehr als angebracht. Todesfälle an Bord der RAU IX ex. HVALUR 5 sind aktuell nicht bekannt. Vergleiche mit anderen Schiffen zeigen aber, dass es regelmäßig zu Unglücken kam.
Das Schiff verließ Island 1968 und war eine kurze Zeit auf den Färöer-Inseln unter dem Namen HEYKUR im Einsatz. 1969 wurde es nach Bremerhaven verkauft, um fortan als Museumsschiff zu dienen. Warum die Weste mit dem Namen HVALUR 5 an Bord verblieb, ist nicht klar. Es ist zu vermuten, dass Sie bei den Übergaben des Schiffes vergessen wurde. Der Name Hvalur allerdings existiert bis heute, nämlich im Namen des isländischen Walfangunternehmens. Aus heutiger und zentraleuropäischer Sicht vollkommen undenkbar, werden durch besagte Firma weiterhin Wale gejagt und verarbeitet. 1961 kaufte das Unternehmen zwei weitere 1945/1946 in England gebaute Schiffe und gab ihnen die Namen HVALUR 6 und HVALUR 7, sowie 1962 und 1966 zwei in den Jahren 1948 bzw. 1952 in Norwegen gebaute Schiffe, welche wenig überraschend HVALUR 8 und HVALUR 9 getauft wurden. Wurde die RAU IX ex. HVALUR 5 im Jahr 1969 zunächst mit dem Gedanken nach Bremerhaven gebracht, für eine Wiederaufnahme des deutschen Walfangs zu werben, hat sich die Sichtweise auf diesen Industriezweig in den vergangenen Jahrzehnten und bis heute drastisch gewandelt. Diese Änderungen sind auch auf Island spürbar geworden, als HVALUR 6 und HVALUR 7 1986 durch Umweltaktivisten im Hafen versenkt wurden. Heute existieren beide Schiffe noch, sind aber nicht mehr im Einsatz. HVALUR 8 und HVALUR 9 werden weiterhin für den Walfang eingesetzt. Bemerkenswert ist, dass aktuelle Fotos der Schiffe mit einem toten Wal längsseits, sich kaum von den Bildern der 1950er/60er Jahre unterscheiden. Die Einstellung der Gesellschaft hat sich hingegen in fast allen Ländern deutlich zugunsten des Schutzes der Wale verändert. Ob und wann sich eine ähnliche Sichtweise auf Island durchsetzen wird ist unklar. Unabhängig davon sind die Personen an Bord jedes Schiffes großen Risiken ausgesetzt. Es ist eine gute Entwicklung, dass sich Regularien weiterentwickeln und Korkwesten durch moderne Exemplare abgelöst wurden. Dass diese allerdings auch getragen werden, dafür muss jede Person an Bord selbst sorgen.
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